Die Magie der Glaskugel

Seit Menschengedenken sehnen wir uns nach einer Wahrheit, die weiter reicht, als unsere Wahrnehmung. Dabei scheint es vollkommen nebensächlich, ob diese auch wahr ist.

Die Glaskugel im Okkultismus der Kristallseherinen des 19. Jahrhunderts waren dann die Blüte der Hellseherei… dachte man – bis dann Ende des zwanzigsten Jahrhunderts die Menschheit sich immer weiter von der Realität und eigener Wahrnehmung entfernten. Das Internet übernahm das Denken, wahr war, was die Computer ausspuckten.

Dies war der Beginn vieler kleiner Nischen einer neuen Wahrsagerei. Einer perfiden Wahrsagerei. Perfide deswegen, weil im Gegensatz zu früher, wo sie dem Zeitvertreib diente (zugegeben: manchmal auch einer eher eigenwilligen Wahrheitsfindung), die Menschen aufgeklärt waren und wider breiter Volksmeinung sogar wussten, dass die Erde KEINE Scheibe ist, die Menschen von heute, vom Internet gehirngewaschen, dieser Wegelagerei schutzlos ausgeliefert sind.

Eine besonders bizarre Form dieser Wahrsagerei ist mir jüngst in einer Facebookgruppe über den Weg gelaufen, wo ein Medium sich auf eine Art Gedankenverschmelzung mit einem Pferd begibt, der selbst Mr. Spock schwindelig würde, um dem Besitzer zu sagen, was das Pferd über einen denkt.

Doch wie funktioniert das eigentlich mit der Wahrsagerei? Selbst der facebookgeblendeten Hausfrau Lieschen Müller muss doch klar sein, dass ein Wahrsager, der nicht wahr sagt, kein Wahrsager, sondern ein Scharlatan ist.

Das Zauberwort heißt hier: Gratwanderung. Die geschickte Gratwanderung zwischen Trivialwissen und Beobachtungsgabe. Im Idealfalle gepaart mit ein wenig Sozialkompetenz und Psychologie, kann man eine ganze Menge wahr sagen – genug, um als Wahrsager „Recht“ zu haben.

Selbstverständlich könnte jeder halbwegs ausgebildete Pferdekenner die selben Aussagen treffen. Aber mit ein wenig Walle-Walle wirkt es einfach… ja… mystischer, übersinnlicher – und das ist es ja, wonach wir uns heimlich sehnen.

Werden wir ein wenig konkreter – ein fiktives Beispiel:

Wir haben einen Wahrsager (ich nehme jetzt mal mich), eine Pferdebesitzerin (unsere beliebte Lieschen Müller) und ein Pferd… hm… Amy (Amy ist eine rein fiktive Friesenstute: groß, krank und schreckhaft). Lieschen Müller kommt mit Amy nicht zurecht. Fühlt sich unsicher, ist beruflich stark eingespannt, das Pferd steht in einer engen Box und hat vor allem Angst, was kleiner ist als sie, größer ist, oder auch genauso groß ist.

Als guter Beobachter sehe ich natürlich auf den ersten Blick, was los ist, mache ein bisschen Tamm-Tamm, schaue dem Pferd tief in die Augen, mache bisschen Freundlichkeitsspiel und habe ihr Herz (das von Amy) erobert. Schritt eins erledigt. Jetzt noch ein paar allgemeine Aussagen so verpacken, dass es natürlich auf die Besitzerin und ihr Pferd passt, ein paar Wahrscheinlichkeiten vorsichtig auf blauen Dunst raus hauen und bei Bestätigung mich weiter vor tasten. Das Ergebnis schreibe ich dann rollenspielmäßig aus Pferdesicht nieder und halte im Anschluss die Hand auf.

Es ist also absolut keine Hexerei. Genau so hat Wahrsagerei schon vor hunderten von Jahren funktioniert, so wurden selbst große Könige und Feldherren betrogen… und umso leichter funktioniert es heute erst Recht mit uns ach so aufgeklärten modernen Menschen.

Und wenn Ihr bis hier gelesen habt, verstanden habt, was ich geschrieben habe, habt Ihr schon vergessen, dass auch ich ein Blender sein könnte, der Euch mit ein wenig Wikipedia, Google und Pferdekenntnis einen Bären aufgebunden haben könnte… oder… auch nicht?

Liebe Grüße
Thomas

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